Neue Gesetze - ungelöste Fragen

Jugendmedienschutz und gesellschaftliche Werteentwicklungen

Vorbemerkung
Jugendschutz beinhaltet den pädagogischen und den gesetzlichen Aspekt. Unstreitig ist die zentrale Bedeutung pädagogischer Arbeit, gerade wenn es um Zusammenhänge zwischen dem Stellenwert audiovisueller Medien in der Gesellschaft und der Lebenswelt junger Menschen geht. Wesentlich ist aber, dass diese Arbeit flankiert wird von gesetzlichen Rahmenbedingungen. Dabei geht der Gesetzgeber von einem Wirkungsrisiko audiovisueller Medien auf Kinder und Jugendliche aus.

Aspekte der Medienwirkungsforschung
Zur Theorie der Medienwirkung
Die Medienwirkungsforschung ist ein Feld, das parallel verläuft mit der erweiterten Medienlandschaft und intensiv von Soziologen, Psychologen, Pädagogen bearbeitet wird. Die Forschungsergebnisse und Schlussfolgerungen werden entweder in wissenschaftlicher Form dargelegt oder aber in schlagzeilentr ächtigen Überschriften der Boulevard-Presse verbreitet.

Um es vorweg zu nehmen: Eine letztlich schlüssige Beweisführung für bestimmte Wirkungen bestimmter Medieninhalte auf bestimmte Kinder und Jugendliche in bestimmten Situationen existiert nicht.

Zwei Fragen zeigen die Schwierigkeiten differenzierter Aussagen zur Medienwirkung auf:
1. Welche Wirkung eines Films ist anzunehmen? Wirkt er emotional entlastend, verstärkt er bestehende Dispositionen oder regt er in seiner inhaltlichen Machart zur Nachahmung an?
2. Wenn ein Film wirkt, wie ist diese Wirkung auf die gesetzlich festgelegten Altersgruppen einzuschätzen? Wie also wirkt er z.B. auf 4-jährige, 6-jährige, 12-jährige und 16-jährige?

Nach der Erörterung dieser zwei grundsätzlichen Fragen stellen sich neue Fragen: Wirkt der Film z.B. auf 12-jährige Jungen gleich wie auf 12-jährige Mädchen, auf 12-jährige Gymnasiasten ähnlich wie auf 12- jährige Hauptschüler?

So wenig, wie es den Film gibt, so wenig gibt es auch die Jugendlichen als feststehende soziologische Größe. Alter, soziale Herkunft, Bildung, psychische Disposition, Geschlecht, Mediengewohnheiten, Zugehörigkeit zu verschiedenen peer groups, also die sogenannten “intervenierenden Variablen‘ erschweren in hohem Maße eine differenzierte Antwort. Die Liste dieser Überlegungen, Annahmen, Vermutungen ließe sich fortsetzen, ohne zu einem befriedigenden Ende, anders gesagt, zu einer letztlich objektiven Beantwortung der Medienwirkungsfrage zu kommen.

In der öffentlichen Diskussion und der berechtigten Empörung über eine Fülle von Filmen mit gewalttätigem Inhalt wird oftmals von einem kurzschlüssigen Übertragungsmodell ausgegangen. Angesichts steigender Jugendkriminalität, zunehmender Organisation von Kinder- und Jugendbanden, einer hohen Gewaltbereitschaft unter Schülern wird die Ursache hierfür schnell bei den audiovisuellen Medien gesucht. Die Vielfalt möglicher Erklärungsmuster spiegelt sich in einem Einblick gängiger Medienwirkungshypothesen bei Gewaltdarstellungen wider:

Katharsis-These
Die Darstellung von Gewalt in den Medien bietet dem Zuschauer die Möglichkeit, durch Identifikation mit den handelnden Filmmodellen in seiner Phantasie vorhandenes aggressives Potential abzubauen.

Inhibitionsthese
Die in den Medien gezeigte Gewaltdarstellung wird vom Zuschauer abgelehnt, da sie mit seiner ethischen Einstellung nicht in Einklang zu bringen ist.

These der Verstärkung bestehender Dispositionen
Weist ein Zuschauer aufgrund seiner eigenen Lebenserfahrung und Lebenswirklichkeit aggressives Potential auf, so verstärkt Mediengewalt diese aggressiven Tendenzen.

Habitualisierungsthese
Regelmäßiges Anschauen von gewalttätiger Filmhandlung wird vom uschauer so adaptiert, dass er Gewalt als gängige Verhaltensweise akzeptiert. Gewalt wird gleichgültig erlebt bzw. ihr Einsatz erscheint gerechtfertigt.

Abstumpfungsthese
Durch das häufige Anschauen von Gewalt im Film stumpfen die Reaktionen ab. Der Zuschauer erlebt Gewalt als etwas Normales.

These der kognitiven Dissonanz
Steht der Zuschauer Gewalt absolut konträr gegenüber, so hat auch Mediengewalt keinerlei Wirkung auf ihn. Gewalttätige Medieninhalte werden abgelehnt oder eventuell umgedeutet.

Zur Lerntheorie
Sicherlich kann jede dieser Wirkungstheorien zutreffend sein - allerdings nicht per se - sondern nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Versetzt ein Film z.B. einen Zuschauer aufgrund dessen persönlicher Gefühls- und Erfahrungssituation in einen als negativ erlebten Gefühlszustand, so wirkt dieser Film auf diesen Zuschauer besonders stark. Andere Zuschauer mit einer völlig anderen Gefühlsdisposition lässt der Film kalt. Hiermit sei die “Klarheit“ der betreffenden Wirkungshypothesen angedeutet.

Der amerikanische Medienwissenschaftler McGuire sagt, nach sorgfältiger Abwägung der Medienwirkungstheorien, dass die Anhänger der gravierenden Medienwirkungen die Beweise schuldig geblieben sind. Diese Aussage ist einerseits so nicht haltbar. Untersuchungen belegen sehr wohl den negativen Einfluss bestimmter Medien in lerntheoretischer Hinsicht. Kunczik spricht hier besonders Selbstjustizfilme und Gewaltpornographie an. Andererseits ist McGuire zuzustimmen, dass Beweise für direkte, gravierende Medienwirkungen wohl kaum zu erbringen sind.

Zur Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit bedarf es einer Folge von Lernprozessen. Verhaltensweisen von Modellen, die positiv erlebt werden, wie z.B. Eltern, Lehrer, aber auch Filmstars, Schauspieler werden nachgeahmt und in das eigene Verhaltensrepertoire übernommen. Filmgewalt, die von positiven Identifikationsfiguren eingesetzt wird und erfolgreich ist, hätte dann einen vorbildhaften, lehrhaften Charakter.

Exponiertester Vertreter der These der Wirksamkeit von Medieninhalten auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen ist Werner Glogauer von der Universität Augsburg. Er versucht zu belegen, dass junge Menschen durch das Anschauen gewalttätiger Filme in bestimmter Weise gewalttätig und kriminell wurden. Diese Annahme stützt sich auf das Studium einschlägiger Gerichtsakten. Zwar konstatiert Glogauer, dass gewisse soziale Deformationen bei den Jugendlichen vorliegen müssen, aber sozusagen ‘initialzündend‘ sei der Einfluss der Medien. Andererseits werden dagegen immer noch die generelle Unwirksamkeit bzw. die positiv-entlastende oder positiv-abschreckende Wirkung von Medieninhalten auf Kinder und Jugendliche betont. Dies entspricht nicht den täglichen Beobachtungen, die Lehrer, Vorschulpädagogen, Jugendpfleger in ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen machen.

Dieter Baacke von der Universität Bielefeld sagt zur Medienwirkung, „das der Zusammenhang zwischen gewaltdarstellenden Darbietungen und gewalthaltigen Handlungen von Jugendlichen nie linear ist, sondern komplex. Filme sind keine schlichten Wirkfaktoren für bestimmte Verhaltensmuster sondern eine Sozialisationsinstanz, die in sehr differenzierter Weise die Lebenswirklichkeit junger Menschen durchdringt. Einerseits wird diese mediale Sozialisationsinstanz von vielen Jugendlichen souverän und ohne Schaden beherrscht, andererseits prasselt die kommerzielle Bilderkultur mit fragwürdigen Formen und Inhalten mit ungeheurer Wucht auf sie ein, ohne sich um soziale Differenziertheiten und psychische Befindlichkeiten zu kümmern.

Kommerzielle Interessen der Medienindustrie stehen hier einer sensiblen Psychosozialstruktur von Kindergartenkindern, in der Pubertät befindlichen Jugendlichen oder durch Schulabbruch, Arbeitslosigkeit oder fehlende Sinnmotivation in ihrem Selbstwertgefühl zutiefst verletzten Jugendlichen gegenüber.

Hier wirken negative Filme negativ! Filme sind nicht die Ursache für negatives Verhalten, aber sie können unter bestimmten Voraussetzungen verstärkend wirken - und das ist wichtig genug. Sehen ist keine passive Tätigkeit sondern erfordert oder bewirkt immer eine geistig-aktive Auseinandersetzung, die sich positiv oder negativ auf Verhalten und Einstellungen bemerkbar machen kann.

Ein Wort noch zu der Medienwirkung. Auf einer Tagung im September 1995 in Lund in Schweden, konstatierte die amerikanische Psychologin Ellen Battela, dass es weltweit über 5000 Untersuchungen über den Einfluss medialer Gewalt auf Kinder und Jugendliche gebe - mit völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Ich folge nicht Hans Dieter Kübler, der dies als "gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Wissenschaftler und Institutionen" bezeichnet, aber ich schließe mich Martin Rabius an, der bezüglich konkreter Ergebnisse sagt, dass zumindest "die Gemengelage" schwierig sei. Einig ist man sich darin, dass Gewaltdarstellungen ein "Wirkungsrisiko" beinhalten und junge Menschen den besonderen Schutz der Gesellschaft genießen.

Es reicht völlig aus ein solches Wirkungsrisiko anzunehmen bzw. ethisch-moralische Grenzen aufzuzeigen, die Angebote für Erwachsene gegenüber Angeboten für Kinder und Jugendliche unterscheiden. Heutige Kinder sind zwar mediensozialisierter als die Generationen vor ihnen, aber die vorhandene technische Kompetenz kann nicht davon ablenken, dass noch kein stabiles emotionales und moralisches Wertebewusstsein vorhanden ist, das sie gegen sozialethisch desorientierende Angebote immun macht. Jugendschutz ist in diesem Sinne ein Instrument sozialer Verantwortung und Teil der gesellschaftlichen Diskussion über Werte und Ziele, die keine flächendeckende Kontrolle fordert, sondern vielmehr verallgemeinerbare Grenzen aufzeigt, die in gesellschaftlichem Diskurs entstanden sind.

Gewalt
Gewalthaltige Medieninhalte treffen auf eine gesellschaftliche Realität, die alles andere als friedlich ist. Ein ständiger Streitpunkt ist, ob diese Gewalt durch die Medien produziert wurde oder ob die Medien das Produkt einer gewalttätigen Umwelt sind. NATURAL BORN KILLERS von Oliver Stone spiegelte 1994 diese Diskussion in Deutschland wider. Gerade die Machart dieses Filmes mit 3000 Schnitten auf 120 Minuten Laufzeit, d. h. die "Lebenszeit" einer Einstellung beträgt im Durchschnitt 2,4 Sekunden, und die 60 Musiktitel, die eine unentwegt wechselnde Soundattacke verbunden mit Hunderten von Schüssen auf das menschliche Aufnahmevermögen beinhalten, sowie die Fülle von Tötungen in diesem Film, entfachten eine qualitativ neue Diskussion um das Thema Medien und Gewalt. Die FSK hat diesen Film "verboten" - für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Die Gefahr, dass der Film das bagatellisiert, was er vordergründig kritisiert, nämlich die Belanglosigkeit des Tötens innerhalb einer sensationsgierigen Mediengesellschaft zu zeigen, ist für junge Menschen nicht von der Hand zu weisen. Hinzu kommt eine Überforderung bezüglich der Verarbeitung der gezeigten Bilder. Erwachsene hingegen sollten sich mit diesem Film - so sie es denn wollen - auseinandersetzen können und ihn eventuell als Warnung für eine Gesellschaft ansehen, die der medialen Sensation alles opfert. Dass dies nicht von der Hand zu weisen ist, zeigte das Geiseldrama von Gladbeck.

Ein anderes Beispiel für die Gewaltdiskussion in den Medien ist der Spielberg-Film SAVING PRIVAT RYAN. Der französische Philosoph Paul Virilio sagte 1986, die Geburt des Kinos sei aus dem Geist des Krieges entstanden. Die Kamera vervollkommne auf technisch raffinierte Weise die Obszönität des militärischen Blicks, der darin bestehe, soviel wie möglich zu sehen ohne dabei selbst gesehen zu werden. Bei SAVING PRIVAT RYAN trifft dies zu wie auf keinen anderen Film und eine negative Suggestibilität auf junge Menschen ist nicht auszuschließen. Hinzu kommt eine mögliche Faszination des Krieges im zweiten Teil des Filmes, was zu einer sozialethischen Desorientierung führen kann hinsichtlich der "männlichen Bewährung". Erinnert sei an die Szene, als der intellektuelle, zurückhaltende GI im Kampf um die Brücke - soldatisch gereift - den Deutschen erschießt, für dessen Freilassung er sich einige Tage vorher noch eingesetzt hatte. Im Gegensatz zu Joseph Vilsmaiers STALINGRAD oder Steven Spielbergs Meisterwerk SCHINDLERS LISTE erhielt SAVING PRIVAT RYAN von der FSK eine Freigabe erst ab 16 Jahren. Die ungeheure Wucht und Verselbständigung der Gewalt in einem Krieg ist trotz meiner Einwände die eindeutige Gesamtaussage des Filmes. 16-Jährige dürften in der Lage sein diesen Gesamtkontext zu erkennen und sollten sich auch mit der "Obszönität des militärischen Blicks" auseinandersetzen können.

Pornographie
Hier soll keine zusätzliche Variante der Pornographie-Definition gegeben werden, lediglich eine dürre Beschreibung: Die menschlichen Körper werden bei der Pornographie als technische Apparate der Lustmaximierung gesehen. Sie werden in einem hocharbeitsteilig organisierten Verfahren in dem Sinne eingesetzt, dass nacheinander mehrere Männer eine Frau oder mehrere Frauen einen Mann "bearbeiten" zur Endfertigung des Produkts "Lust". Die Verselbständigung der Schaulust ohne jede soziale Einbindung wird durch den pornographischen Film insofern befriedigt, als er Bilder realer Vorgänge in einer Form zeigt, die sonst keines Menschen Auge wahrnimmt. Diese visuellen Angebote sollen triebstimulierend wirken. Werden hierbei keine humanen Gebote verletzt, kann man bei erwachsenen Menschen nicht von einer sozialen Schädigung oder sozialethischen Desorientierung ausgehen. Für die gesellschaftliche Beurteilung ist der jeweils gültige Moralkonsens bestimmend. Grundsätzlich anders ist diese Frage zu beurteilen, wenn es um den Bereich des Jugendschutzes geht. Sexuelle bzw. pornographische Darstellungen treffen auf eine noch unabgeschlossene labile sexuelle Sozialisation, die bei männlichen Jugendlichen auf ein stark anwachsendes Triebpotential trifft und auf eine Neugierde auf beiden Geschlechtsseiten. Sind pornographische Darstellungen dann eine Art von Primärerfahrungen möglichen sexuellen Umgangs für junge Menschen, können sie nachhaltige Orientierungsstörungen auslösen. Bei jungen Menschen mit einer im Aufbau befindlichen Wertestruktur, bei der es darum geht erfahrenes Vertrauen, Selbstvertrauen und zunehmendes Triebpotential in soziales Verhalten umzusetzen, können sie negative Einstellungen verstärken. Auch die vermeintliche Authentizität der vermittelten Inhalte zahlreicher erotischer Filme kann zur nachhaltigen Desorientierung führen. Dies ist für 12-jährige unzumutbar, sicherlich auch für 16-jährige, die in der Regel noch lange nicht in das gesellschaftliche Normengefüge integriert und im Hinblick auf ihre Rollenentwicklung noch sehr beeinflussbar sind. Nicht die eventuelle Triebstimulierung ist dabei für 16- jährige beeinträchtigend, sondern die problematische Grundaussage solcher Filme ("Der Mann kann immer, die Frau will immer!").

Fragen, die am Anfang der Überlegungen zur FSK-Alterskennzeichnung stehen
Welchen Inhalt transportiert das Medium? In welcher Form wird dieser Inhalt dargeboten? Daraus folgt: Welche Wirkung übt der Film auf den Zuschauer aus?

Welche Anhaltspunkte lassen sich nun konkret heranziehen?
a) Die individuelle Wirkung auf den Prüfer Hierbei ist kein sofortiges rationales Verstehungsmuster zu formulieren, sondern vielmehr ein sensibles Beobachten der eigenen emotionalen Reaktion während bzw. nach dem Anschauen des Filmes.
b) Wie würden Kinder und Jugendliche, die ich als Prüfer kenne, auf diesen Film reagieren? Diese Frage braucht nicht hypothetisch zu sein, da viele der Prüferinnen und Prüfer in der Jugendarbeit, in der Schule tätig sind, Jugend- und Kinderfilmarbeit betreiben, mit Kindern und Jugendgruppen auch über längere Zeiträume hinweg zusammen sind in Ferienlagern, Konfirmandenfreizeiten, Schullandheimaufenthalten.

Diese Punkte gelten in erster Linie für die Filmrezeption. Bei Videofilmen sind andere Rezeptionsbedingungen zu beachten. Zu den eher gefühlsbestimmten Punkten müssen also noch verallgemeinerbare Kriterien hinzukommen.

• Jugendsoziologische Kenntnisse sind notwendig: Welche unterschiedlichen Gruppierungen der Jugendszenen gibt es? Welche Verhaltensmuster sind vorhanden? Inwieweit sind diese medial bestimmt? So ist z. B. das Prinzip des "Hopping" durchgängiges Element jugendlicher Freizeitgestaltung. Nicht mehr das Verweilen an einem Platz ist angesagt, sondern das möglichst rasche, fast zwanghafte Durcheilen unterschiedlichster Orte an einem Abend. Naheliegend ist der Vergleich mit der Fernbedienung und der dazugehörige Unterhaltungsslalom. Dies braucht nicht negativ beurteilt zu werden, sondern kann auch als Kompetenz verstanden werden. Während Erwachsene meist nur einem Programm konstant folgen können, sind Jugendliche in der Lage drei bis vier Fernsehprogramme gleichzeitig wahrzunehmen.

• Die Orientierung an der Entwicklungspsychologie (Piaget; s. auch moralische Entwicklungsstufen nach Kohlberg) ist der nächste Punkt. Die Entwicklungsphasen von Kinder und Heranwachsenden sollten bekannt sein. Hierbei ist es besonders wichtig, die entwicklungspsychologischen Stufen der Kinder in Beziehung zu ihrer Aufnahmekapazität und Verarbeitungsfähigkeit zu setzen. Eine Überstrapazierung dieser Meta-Ebene kann jedoch sehr schnell von der konkreten Filmbeurteilung wegführen und orientiert sich dann allzu leicht an allgemeinen Aussagen zur Bedeutung oder eben Nichtbedeutung des Mediums Film für die kindliche Entwicklung.

• Die Medienwirkungsforschung ist sicherlich – bei allen Einwänden – eine zentrale Komponente. Es sind in den letzten Jahren eine Fülle von Felduntersuchungen entstanden, die nachweisen, dass Medieninhalte und Formen medialer Gestaltung durchaus ihre Auswirkung gerade auf Kinder haben natürlich unter ganz bestimmten Bedingungen! Kein ernstzunehmender Jugendschützer würde einem schlichten Übertragungsmodell das Wort reden. Dieser Einwurf wird immer wieder einmal vorgetragen, um die Sinnhaftigkeit der Alterskennzeichnung generell in Zweifel zu ziehen. Außer vielleicht einem gewissen progressiven Charme sprechen hierfür allerdings keine Erkenntnisse.

• Last not least die Kenntnis der Wirkung der Bildsprache, die Dechiffrierung visueller Botschaften, ist ein unabdingbares Element für eine sachgerechte Filmbeurteilung. Auch hier ist der Einzelfall zu entscheiden. Ein Beispiel: Ein erhobenes Beil über dem Kopf eines filmischen Widersachers! Vor dem Niedersausen wird geschnitten. Sicherlich zu Recht, der blutüberströmte Kopf wird dem jugendlichen Zuschauer erspart - auf der Leinwand! Vor dem geistigen Auge des Betrachters aber steht glasklar das blutige Ergebnis. Die emotionale Wirkung ist mit oder ohne Schnitt die gleiche. Konsequenz: also bereits die Szene mit dem erhobenen Beil schneiden? Das heißt, man schneidet eine eigentlich verkraftbare Szene und meint die Folgeszene, die evtl. überhaupt nicht auf der Leinwand erscheint. Diese Entscheidung kann nur in der Gesamtbeurteilung des Films getroffen werden.

Ausblick
Von grundlegender Bedeutung für einen funktionierenden und sachorientierten Jugendschutz wird - mehr als bisher - die Koordination und Bündelung von gesetzlichem und erzieherischem Jugendschutz sein. Im Zentrum dieser Überlegungen muss der Rezipient, vor allem der kindliche Nutzer stehen. Pauschale Beurteilungsschemata treten in den Hintergrund zugunsten einer entwicklungspsychologisch begründeten Auseinandersetzung mit dem Rezeptionsvermögen junger Menschen. So können Angebote, die Erwachsenen nicht jugendschutzrelevant erscheinen, zum Problem der kindlichen Psyche werden. Kinder sind durchaus in der Lage, ab eines gewissen Alters zwischen fiktionalen und nonfiktionalen Medienangeboten unterscheiden zu können und auch Rollen und Verhaltensmuster werden keineswegs pauschal adaptiert, sondern in ihrer Wertigkeit verglichen, beurteilt und kritisch hinterfragt. Dies trifft allerdings nur auf intellektuell und emotional verkraftbare Angebote zu. Gerade sogenannte Familienfilme enthalten aber oftmals realanaloge Situationen, die von Kindern ernstgenommen werden. Sind diese noch spannungsgeladen, wie z.B. das Weglaufen von Kindern von Zuhause, Streit zwischen den Eltern, nachfühlbare Darstellungen schulischer Probleme und ihre Auswirkungen auf das Verhalten in der Familie, so empfinden Kinder zumindest diffuse Verängstigung, wenn nicht Ansätze traumatischer Erfahrungen. Hier greifen regulative Grenzziehungen allein zu kurz, pädagogische Initiativen sind erforderlich, die Medienkompetenz bzw. Lebenskompetenz vermitteln und stärken helfen. Kinder- und Jugendarbeit, Kinderund Jugendforschung sind unverzichtbare Bestandteile eines wirksamen Jugendschutzes - keineswegs ein Widerspruch, aber auch kein Ersatz.

Sollen Veränderungen der Gesellschaft nicht nur durch Veränderungen im technologischen Bereich begründet werden, bedarf es Grenzen. Der Medienmarkt, der die Film- und Videoindustrie, analoge und digitale Rundfunkangebote, digitale Bildträger im Info- und Edutainmentbereich bis zu den Massenangeboten im Onlinesektor umfasst, ist weltweit der finanzstärkste Entwicklungsmarkt. Unreflektierte Anpassungsleistungen sind ebenso wenig wünschenswert wie die ungeregelte Dominanz des Kommerzes. Medienpädagogische Arbeit, die nicht zuletzt zur demokratischen Teilhabe in der Mediengesellschaft führen muss, und rechtliche Regelungen, die das Wirkungsrisiko der Medienangebote dem Rezeptionsvermögen junger Menschen in entwicklungspsychologischer Hinsicht anpassen, sind unerlässlich.

Von Folker Hönge, Dokumentation "Medienschutztagung" 2003, Berlin.
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