Hypothesen mit konkreten Folgen

Nach welchen Kriterien werden Filme freigegeben? - Ein Interview mit Folker Hönge

Etwa 5.000 Studien gibt es zu der Frage, ob Mediengewalt die Einstellung der Rezipienten oder gar ihr Verhalten beeinflußt. Handfeste Beweise für eine Wirkung gibt es nicht, wohl aber Hinweise, die auf eine Wirkung deuten. Was aber macht die Wirkung aus? Sind es die grausamen Bilder - oder ist es die positive Darstellung von Gewalt? Ab welchem Alter kann welche Darstellung verstanden werden, so daß sie weniger Schaden anrichtet? Fragen, auf die in der Wissenschaft keine konkreten Antworten gegeben werden, die aber in der Praxis des Jugendschutzes von entscheidender Bedeutung sind. "TV Diskurs" sprach mit Folker Hönge, Ständiger Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden bei der FSK und Vorsitzender im Arbeitsausschuß, über die Kriterien bei der Filmfreigabe.

Joachim von Gottberg (TV Diskurs): Nach § 6 und 7 des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit dürfen Filme, die geeignet sind, das "körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen zu beeinträchtigen", nicht zur Vorführung vor ihnen freigegeben werden. Auf welche Arten von Filmen trifft eine solche Beeinträchtigung zu?

Folker Hönge: Unser Hauptaugenmerk liegt auf Filmen, die Gewalt darstellen. Dabei geht es um die Darstellung von Gewalt in ihrer unterschiedlichsten Ausprägung, also um physische, psychische und strukturelle Gewalt. Daneben geht es auch um die Darstellung von Sexualität, wobei uns weniger die mögliche sexuelle Stimulation interessiert, als die Darstellung von Geschlechterrollen, von Verhaltensrastern und von Menschenbildern. Andere Themen, auf die wir unser Augenmerk richten, sind zum Beispiel Filme, die en Umgang mit Drogen oder Alkohol verharmlosen oder verherrlichen, genauso die Filme, die Vorurteile oder negative Einstellungen gegenüber Minderheiten transportieren.

Beschäftigen wir uns zunächst mit Gewaltdarstellungen. Wie läuft eine solche Diskussion im Ausschuß ab?

Zunächst ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß die Wirkung eines Filmes nicht an einzelnen Szenen, in denen Gewalt dargestellt wird, festgemacht werden kann. Wir diskutieren vielmehr die Gesamtwirkung und den Gesamteindruck des Filmes. Dabei spielen natürlich auch die einzelnen Darstellungen von Gewalt eine Rolle, aber sie werden immer innerhalb des Gesamtkontextes gesehen. Ist beispielsweise in einem Unterhaltungsfilm der Anteil der gewaItdarstellenden Szenen so groß, daß sie den Gesamteindruck des Filmes dominieren, dann kann das für eine Jugendfreigabe problematisch sein; ist aber die Darstellung von Gewalt glaubhaft in eine Handlung eingebunden, die die dargestellte Gewalt problematisiert und den Zuschauer letztlich gegen diese Gewalt einnimmt, so daß der Zuschauer sich mit eben dieser Gewalt auseinandersetzt und sieht, daß es auch andere Konfliktlösungswege als die der Gewaltanwendung gibt, dann kann das durchaus dazu führen, daß ein Film trotz einzelner problematischer Darstellungen eine Freigabe beispielsweise ab 12 Jahren erhält.

Ausschlaggebend dabei ist, ob Zwölfjährige in der Lage sind, die Relativierung der dargestellten Gewalt im Gesamtkontext nachzuvollziehen. Hierbei sind die Dramaturgie, die Glaubwürdigkeit der Darsteller, die Filmhandlung wichtig. Eine große Rolle spielt dabei, wie der Film ausgeht: Hat derjenige, der im Film gewalttätig agiert, letztlich Erfolg, oder setzen sich die Filmfiguren durch, die Gewalt als Mittel der Konfliktlösung eigentlich ablehnen und nur in Situationen der Notwehr Gewalt anwenden? Werden die Gewaltszenen unkommentiert als Mittel des Nervenkitzels, also zu Unterhaltungszwecken, eingesetzt, so daß der Einsatz von Gewalt durch den Film gerechtfertigt wird? Wird Gewalt im Film von den "Bösen" oder von den "Guten" angewendet, steht also der Zuschauer in seinem Filmerleben eher auf der Seite derjenigen, die Gewalt anwenden, oder derjenigen, die sie bekämpfen? Ebenso wird analysiert, ob die Gewaltszenen die Perspektive des Opfers und seines Leidens einnehmen oder ob sie die Allmachtsgefühle des Täters in den Vordergrund stellen. Wir wissen aus der Forschung, daß die Opfer- bzw. Täterperspektive zu völlig unterschiedlichen Wirkungen führt. Ebenso spielt eine Rolle, wie realistisch, wie glaubwürdig die jeweilige Darstellung ist. So kann ein Kampf zwischen Vampiren oder Monstern durchaus gewalttätig sein, dennoch wird sich der Zuschauer, jedenfalls der über Sechzehnjährige, darüber im klaren sein, daß es sich hier um Fiktion handelt. Wird die Szene allerdings mit aufwendigen, sehr realistisch wirkenden special-effects gestaltet und wirken die Schauspieler in ihren Rollen echt so fällt eine Distanzierung zum Geschehen erheblich schwerer.

Genauso wichtig ist aber, wie der Film die Gewalt wertet. Bezieht der Film klar eine Gegenposition zu der dargestellten Gewalt, wie das zum Beispiel in Antikriegsfilmen der Fall ist, so kann die Darstellung von Gewalt ein Mittel sein, um gegen die Anwendung von Gewalt zu sensibilisieren. Gewaltszenen können den Zuschauer sehr stark emotionalisieren, und diese entstandenen Emotionen kann ein Film nutzen, um die Motive oder die Strukturen, die zu Gewaltanwendungen führen, zu problematisieren. Nachdem wir im Ausschuß ausführlich den Film analysiert haben und sowohl über die gefährdenden als auch über die relativierenden Aspekte des Filmes diskutiert haben, überlegen wir, ab welchem Alter dieser Film bezüglich der Problematisierung von Gewalt verstanden werden kann. Wenn ein Film sehr drastische und realistische Szenen enthält kann er jüngere Zuschauer emotional überfordern, so daß die relativierenden Elemente des Filmes überlagert werden. Darüber hinaus kann es sein, daß der Kontext ein hohes Maß an Wissen oder an kognitiven Fähigkeiten erfordert, jüngere Zuschauer also nicht in der Lage sind, die Gewaltszenen sinnvoll einzuordnen. Wir versuchen deshalb, die zunächst herausgearbeiteten möglichen Wirkungsfaktoren des Filmes in Beziehung zu setzen zu den altersabhängigen Verstehensfähigkeiten, zur kognitiven und emotionalen Entwicklung in den jeweiligen Altersstufen, zu dem Wissen, das man in bestimmten Altersgruppen voraussetzen kann. Aber natürlich spielen auch bestimmte Problemphasen in der Entwicklung für das Verstehen von Filmen eine Rolle. Die Entwicklung der eigenen Identität und eines eigenen Wertesystems sind in der Altersphase der Zwölf- bis Fünfzehnjährigen von großer Bedeutung. Deshalb können Zwölfjährige problematischen Wertevorstellungen, die ein Film vermittelt weniger ihre eigenen Werte entgegensetzen als die ab Sechzehnjährigen. Man kann darüber diskutieren, ob die Altersgruppen, die uns der Gesetzgeber vorgibt, mit den Rastern, die wir aus der Entwicklungspsychologie kennen, übereinstimmen. Solange der Gesetzgeber hier allerdings nicht tätig wird, müssen wir mit den Vorgaben des § 6 JÖSchG leben. Und so kann es durchaus vorkommen, daß wir über einen Film diskutieren, der für Vierzehnjährige durchaus eine positive Wirkung haben kann, den aber Zwölfjährige in seinem Kontext nicht verstehen können. In diesem Falle müssen die Risiken gegen den Nutzen abgewogen werden. Und dann kann es im Sinne einer positiven Zumutung durchaus dazu kommen, daß wir den Film bereits ab 12 Jahren freigeben, weil auf jeden Fall die Dreizehn- bis Vierzehnjährigen schon eine Menge über Gewalt in der Welt und deren Zusammenhänge wissen. Es ist aber ganz wichtig, die Verstehens- und die Auseinandersetzungsmöglichkeiten, die ein Film bietet, genauso in Beziehung zur Altersfreigabe zu setzen wie die bildliche Darstellungsebene.

In der Öffentlichkeit wird ja häufig die Meinung vertreten, daß Gewaltdarstellungen im Film zu einer Adaption der Gewalt in der Phantasie oder sogar im Handeln führt. Sie gehen da wohl differenzierter vor...

Ja. Diese Diskussion wurde vor einigen Jahren sehr intensiv geführt. Mittlerweile ist es aber so, daß diese Meinung nur noch in auflagenträchtigen Schlagzeilen in bestimmten Boulevardzeitungen vertreten wird. Es gibt keine einfache Wirkung von Filmgewalt im Sinne einer Imitation oder Übertragung. Die Wirkungsmechanismen sind erheblich komplizierter. Es geht darum, die Schattierungen zu diskutieren, den Kontext, den der Film bietet in Beziehung zu setzen zum Kontext der kognitiven und emotionalen Verstehensfähigkeiten sowie dem sozialen Umfeld, in dem Jugendliche heute leben. Ein Problem dabei ist sicher, daß nicht alle Zwölf- oder Sechzehnjährigen in ihrer Entwicklung gleich weit sind. Ein fünfzehnjähriger Gymnasiast, der einen Film mit seinen Eltern zusammen sieht und der in einem sehr wertorientierten Umfeld groß geworden ist wird einen Film möglicherweise völlig anders aufnehmen als ein Hauptschüler, der vielleicht in seinem Umfeld Gewalt als Mittel der Konfliktlösung unmittelbar erfahren hat, und dessen Eltern sich nicht um seinen Medienkonsum kümmern. In den FSK-Grundsätzen gibt es daher den Begriff der "gefährdungsgeneigten Jugendlichen" die wir in unserer Spruchpraxis berücksichtigen müssen. Jugendliche, die sich beispielsweise in familiären Krisensituationen befinden, die Schulprobleme haben oder in ihrem sozialen Umfeld nicht zurechtkommen, können eine Vorliebe für Gewaltfilme entwickeln, in denen sich ein gewalttätiger Held mit Erfolg gegen diejenigen durchsetzt, die ihn unterdrücken. Solche Jugendlichen sind von der dargestellten Gewalt unmittelbarer betroffen, die Beziehung zu dem Filmgeschehen und dem eigenen Erleben ist direkter. Deshalb muß bei diesen Jugendlichen von einem erhöhten Wirkungsrisiko ausgegangen werden. Ihre Gewalterfahrung wird durch den Film möglicherweise verstärkt. Diese Fragen lassen sich nicht allein theoretisch lösen. Deshalb ist es für unsere Prüfpraxis sehr wichtig, daß ein großer Teil unserer Prüferinnen und Prüfer Erfahrung in der Arbeit und im Umgang mit entsprechenden Jugendlichen hat. Nur dadurch sind sie in der Lage, die fiktionale Welt des Filmes mit der realen Welt der Jugendlichen, für die diese Filme dann freigegeben werden, in Beziehung zu setzen.

Vielleicht sprechen wir einmal über konkrete Filme und ihre Freigaben. Was sind das für Filme, bei denen die FSK eine Jugendfreigabe ablehnte?

Ein Thema, das in Filmen relativ häufig aufgegriffen wird, ist das der Selbstjustiz: Ein Verbrechen geschieht, das ausführlich visualisiert wird und den Zuschauer emotional schockiert. Die staatlichen Gewalten, also die Polizei, die Staatsanwaltschaft oder die Gerichte, sind unfähig oder nicht gewillt Den Täter zu finden oder zu verurteilen. Das Opfer oder der Held, der dem Opfer helfen will, nimmt sein Recht in die eigene Hand, verfolgt den Täter und tötet ihn. Eine solche Filmhandlung bietet die Folie für zahlreiche Action- und Gewaltdarstellungen. Das wäre ein Fall, bei dem ich sagen würde, daß der Film für Kinder und Jugendliche auf keinen Fall freizugeben ist. Das Gerechtigkeitsempfinden ist bei jungen Menschen sehr stark ausgeprägt sie wollen, daß der Täter zur Rechenschaft gezogen wird. Es besteht die Gefahr, daß sie das Verhaltensmuster der Selbstjustiz befürworten, weil der Film den Eindruck vermittelt, es gäbe keine andere Möglichkeit den Täter zu bestrafen. Damit werden ganz wichtige Grundsätze unseres Rechtsstaates in Frage gestellt, es geht um ethische Grundsätze und um die Frage, welche Spielregeln es in einer demokratischen rechtsstaatlichen Gesellschaft gibt.

Ein klassischer Film dieses Genres ist EIN MANN SIEHT ROT. Dieser Film arbeitet mit allen Tricks. Der Held wird zunächst im Kontext seiner Familie dargestellt der Zuschauer baut eine persönliche Beziehung zu ihm und seinem Umfeld auf. Dann werden seine Frau und seine Tochter von ganz üblen Gangstern überfallen, sie werden ausgeraubt und vergewaltigt. Seine Frau stirbt, die Tochter muß aufgrund des psychischen Schocks den Rest ihres Lebens in einer psychiatrischen Anstalt verbringen. Die Polizei gibt sich keine Mühe, den Fall aufzuklären, so daß dem Filmhelden letztlich nichts anderes übrig bleibt als trotz seiner ethischen Bedenken doch zur Waffe zu greifen und die Täter zu suchen. Besonders problematisch bei dem Film ist, daß der Held in allen Lebenssituationen versucht, Verbrechen zu provozieren, um die Täter dann zu erschießen. Dadurch nehmen tatsächlich die Verbrechen in seinem Umfeld ab. Er wird quasi zum Helden der Stadt. Als er schließlich am Ende des Filmes von der Polizei überführt wird, folgt keine Verurteilung, sondern er wird lediglich dazu aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Denn letztlich hat auch die Polizei erkannt, daß sein Verhalten zu einer Reduzierung von Verbrechen und Unrecht in der Stadt beigetragen hat. Dieser Film ist insofern ein klassischer Fall von Verherrlichung der Selbstjustiz, als er sich nicht nur auf einen konkreten Fall bezieht, sondern weil er im Grunde den Eindruck vermittelt, daß der Rechtsstaat und die staatlichen Institutionen unfähig sind, Recht und Ordnung herzustellen, daß nur durch Selbstjustiz und Gewalt das Unrecht zu besiegen sei. Bei einem solchen Film ist der Gesamtkontext oft viel problematischer als die einzelne Darstellung von Gewalt. Das heißt natürlich nicht, daß staatliche Institutionen und Probleme, die dort eventuell auftreten können - zum Beispiel Korruption -, im Film nicht grundsätzlich aufgegriffen und problematisiert werden dürfen. Andere Filme, die Selbstjustiz darstellen, sind ab 16 Jahren freigegeben worden. Wo liegt da der Unterschied? Es spielt eine Rolle, inwieweit die Aussage eines Filmes, nur durch Selbstjustiz könne man Gerechtigkeit herstellen, verallgemeinerbar ist. Wird die Selbstjustiz in einer speziellen, besonderen Situation vollzogen und wird sie vielleicht im Rahmen des Filmes erklärt und problematisiert, dann kann ein solcher Film durchaus auch ab 16 Jahren freigegeben werden. In dem Film Kopfgeld geht es auch um Selbstjustiz, aber hier wird die Selbstjustiz nicht zum Prinzip erhoben, sondern sie wird eingeordnet in einen ganz konkreten Fall. Aber Filme die gerade das Gerechtigkeitsempfinden von jungen Menschen ausnutzen, um damit gegen die Regeln des Rechtsstaates und die staatlichen Ordnungsinstanzen undifferenziert Stimmung zu machen, sind für eine Freigabe unter 18 Jahren ungeeignet. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, daß ein Film, der Selbstjustiz thematisiert, eine Freigabe ab 16 Jahren erhalten kann.

Können Sie andere Filme nennen, anhand derer man zeigen kann, wie zwischen der Freigabe ab 16 und "nicht unter 18" abgewogen wird?

Ganz wichtig ist die Differenzierung nach Filmgenres. In Actionfilmen kämpft sich meistens ein Mann seinen Weg frei und versucht, sich gegen das Böse, das ihn umgibt, durchzusetzen. Auch er begegnet der Gewalt mit Gegengewalt, was im Grunde für eine Jugendfreigabe recht problematisch ist. Aber hier setzen wir bei Jugendlichen gewisse Genrekenntnisse voraus. Sie können bereits in hohem Maße differenzieren, ob es sich in einem solchen Film um Fiktion oder um Realität handelt. Und diese Actionfilme zeichnen sich gerade dadurch aus, daß sie im hohen Maße irreal sind. Natürlich kann man darüber diskutieren, ob die Ethik, die einer solchen Filmhandlung zugrunde liegt, problematisch ist. Aber hier muß man zwischen der Inhaltsanalyse und der Filmwirkung unterscheiden. Sechzehnjährige erkennen, daß es sich um Unterhaltungsfilme handelt, deren Inhalt mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Bei einer Freigabe ab 12 Jahren bin ich erheblich vorsichtiger. Denn bei Zwölfjährigen sind die Genrekenntnis und die Realitätserfahrung bei weitem noch nicht so deutlich ausgeprägt, daß die nötige Distanz zum Filmgeschehen hergestellt werden kann.

Entwicklungspsychologisch gesehen gibt es ja zwischen den Sechzehnjährigen und den Achtzehnjährigen keinen wesentlichen kognitiven Entwicklungsschritt. In vielen Ländern, beispielsweise in Frankreich, in Holland oder in Schweden, ist deshalb 15 bzw. 16 die höchste Alterseinstufung. Ist es da für Sie nicht manchmal schwierig, zwischen einer Freigabe ab 16 oder nicht unter 18 Jahren genaue Kriterien zu finden?

Das ist in der Tat sehr schwierig und wird auch oft in den Ausschüssen kontrovers diskutiert. Abgesehen von den Selbstjustizfilmen, bei denen die Handlung fast problematischer ist als die Gewaltdarstellung, lehnen wir solche Filme für eine Freigabe ab 16 Jahren ab, in denen die Gewalthandlungen isoliert und ohne relativierenden Kontext dargestellt werden, so daß diese Gewalt selbstzweckhaft wird und die eigentliche Botschaft des Filmes ausmacht. Ein Film, bei dem wir uns für eine Freigabe "nicht unter 18 Jahren" entschieden haben, ist NATURAL BORN KILLERS. Dieser Film kann durchaus kontrovers diskutiert werden. Er zeigt eine Fülle von grausamen Gewaltdarstellungen, er zeigt aber auf der anderen Seite auch den Weg auf, der letztlich zu dieser Gewalt führt. Der Film thematisiert sich quasi selbst. Gewalt wird in den Kontext von Medienereignissen gesetzt. Und da ging es uns bei der Diskussion der Jugendfreigabe darum, ob Sechzehnjährige in der Lage sind, dies bereits zu erkennen. Wir haben uns dann aber für eine Freigabe ab 18 entschieden, weil die Quantität und die Intensität der Gewalthandlungen so sind, daß der Film für die meisten Sechzehnjährigen zumindest eine emotionale Überforderung darstellt.

Spielt bei der Bewertung dieses Filmes nicht auch eine Rolle, daß die Gewalt von den Helden des Filmes ausgeübt wird, also von den Identifikationsfiguren?

Das ist eine sehr subjektive Beurteilung. Ich habe den Film mehrmals gesehen, und ich habe das so nicht empfunden. Die Gefahr besteht natürlich. Diese Unbefangenheit diese Freiheit, die sich das Pärchen nimmt, kann natürlich positive Empfindungen beim Zuschauer ansprechen, und so können sie letztlich positive Figuren in der Rezeption werden. Ich glaube aber, daß bei den meisten Zuschauern der Abscheu gegenüber diesen Taten stärker ist und deshalb bei der Rezeption im Vordergrund steht.

Aber insgesamt spielen die Fragen, mit wem sich der Zuschauer identifiziert und wie diese Identifikationsfiguren gezeichnet sind, bei der Freigabe doch wohl eine große Rolle?

Ich bin mit dem Begriff "Identifikation“ hier etwas vorsichtig. Es ist zu einfach, wenn man sagt: Hier ist ein Held, ob positiv oder negativ, der die Handlung weitgehend bestimmt und mit dem identifiziert sich der Jugendliche. Das kann so sein, aber muß nicht unbedingt so sein. Ob sich die Zuschauer tatsächlich mit einem Helden identifizieren, hängt von sehr vielen Variablen ab, zum Beispiel vom Geschlecht. Mädchen identifizieren sich mit anderen Helden als Jungen, wie zum Beispiel die Forschung von Renate Lucca zeigt. Vereinfacht gesagt kann man die Forschungsergebnisse so zusammenfassen, daß sich Männer stärker mit den Tätern, Frauen stärker mit den Opfern identifizieren. Diese Ergebnisse werden auch dadurch bestätigt, daß bestimmte Filmgenres hauptsächlich von Männern, andere von Frauen bevorzugt werden. Die Identifikation hängt auch sehr stark davon ab, ob ein Jugendlicher, der beispielsweise ein Gewalterlebnis hatte, sich selbst in dem Helden wiedererkennt. In solchen Fällen wäre eine Identifikation wahrscheinlich. Die Frage der Identifikation stellt sich bei den jüngeren Altersgruppen viel stärker. Bei Kindern ist das Miterleben mit Filmhelden ungebrochener, sie verfügen über weniger Möglichkeiten, sich davon zu distanzieren. Und deshalb müssen wir uns als Erwachsene bei der Filmprüfung immer fragen, ob sich nicht möglicherweise Kinder viel stärker mit bestimmten Personen identifizieren als wir das tun. Ein anderer Film, der in letzter Zeit eine Freigabe erst für Erwachsene erhalten hat ist der Film FROM DUSK TILL DAWN. Bei dem Film spielt zum einen die Darstellung von Gewalt eine Rolle, wobei die Gewalt in der ersten Hälfte des Filmes eher im Realitätsbereich angesiedelt ist während sie im zweiten Teil eindeutig ins Fiktionale geht, weil hier die Gewalt von Vampiren ausgeht. Aber die Gewalt verselbständigt sich in dem Film so stark, daß sie zum großen Teil handlungsbestimmend wird. Ein anderer Aspekt ist, daß die Hauptfigur, die zunächst als Verbrecher eingeführt wird, sich im Laufe des Filmes im Kampf gegen die Vampire beweist, daß die emotionale Anbindung an diese Person sehr stark sein kann, so daß sich hier eine Person zur Identifikation anbietet die doch zumindest am Anfang des Filmes eine sehr negative Rolle spielt. Dadurch geht die emotionale Distanz, die man zu Beginn gegenüber diesem Menschen hatte, durch die zunehmende Anteilnahme an seinem Schicksal im zweiten Teil des Filmes verloren. So verliert der Zuschauer seine Distanz gegenüber den Gewalthandlungen, und es entsteht der Eindruck, man könne Konflikte im Leben nur dadurch lösen, daß man selbst gewalttätig wird.

Vor zwei Jahren gab es in Passau einen Fall, in dem ein vierzehnjähriger Junge nach mehrmaliger Sichtung des Filmes FREITAG DER 13. seine Cousine schwer verletzt hat. Ist es in diesem Fall nicht doch zu einer Imitation der im Film dargestellten Gewalt gekommen?

Ich halte diese schlichten Überlegungen, daß ein Zuschauer das, was er im Film gesehen hat, unmittelbar in die Tat umsetzt, für nicht stimmig. Filme sind nicht die Hauptsozialisationsagentur, wenn sie auch im Kontext mit anderen Faktoren in der Erziehung eine immer größere Rolle spielen. Ein Jugendlicher wird sicherlich nicht allein durch das Ansehen eines Filmes zu einer Tat motiviert. Hier müssen andere Faktoren hinzukommen, die sogenannten intervenierenden Variablen. Dazu gehören Schule, Elternhaus und die peer group. In einem solchen Kontext kann der Medieneinfluß sicher ein gewichtiger Faktor sein, aber nicht der alleinige Auslöser. Deshalb meine ich, daß man die Diskussion um das Verhältnis von fiktionaler und realer Gewalt zwar sehr ernsthaft führen, aber doch sehr stark differenzieren muß. Viel wichtiger erscheinen mir die Fragen, welche Menschenbilder in Filmen vermittelt werden, welche ethischen Grundsätze angeboten oder verletzt werden, welche Handlungsmuster als vorbildhaft oder als negativ gezeigt werden.

In Frankreich sieht man bei Filmen dann eine hohe Jugendgefährdung, wenn sie unmittelbar auf die Realität eines Jugendlichen übertragbar sind. Filme wie RAMBO werden in Frankreich ohne Altersbeschränkung freigegeben, weil man der Meinung ist diese Art der Gewalt habe mit der Realität in Frankreich nichts zu tun. Wie sehen Sie das?

Es ist richtig, daß der Realitätsbezug im Film eine wichtige Rolle spielt. Je unmittelbarer sich die Frage der Identifikation mit den dargestellten Personen stellt, desto schwerer fällt die Distanzierung, desto weniger wird das Filmgeschehen als fiktional eingeordnet. Vor allem bei einer Freigabe ab 12 könnte die Realitätsnähe des Filmes eine große Rolle spielen. Auf der anderen Seite kann aber eine realitätsnahe Darstellung auch zur Reflexion führen. Wenn ich mich selbst in einem Film wiedererkenne, wenn ich sehe, wie in meinem filmischen Umfeld Gewalt vorkommt und wie die handelnden Personen daran scheitern, wie Menschen an Gewalt zugrunde gehen, dann kann das durchaus für eine Freigabe ab 12 Jahren sprechen. Aber Filme wie RAMBO ohne Altersbeschränkung freizugeben, nur weil die dargestellte Gewalt nichts mit der Realität der Jugendlichen in Europa zu tun hat, halte ich für grundfalsch. Anders ist das bei Bud Spencer-Filmen, die natürlich auch Gewalt zeigen, allerdings auch in einer ganz anderen Qualität. Diese Filme sind von Kindern durchaus zu durchschauen. Bei solchen Filmen wird der Slapstick-Charakter sehr stark in den Vordergrund gestellt. Andere Filme, die wir als Erwachsene allerdings als verhältnismäßig harmlos ansehen, können für jüngere Kinder durchaus zu Verunsicherungen führen. Wenn es um Streit im Elternhaus oder gar um Scheidungen geht- oder um Kinder, die von ihren Eltern verlassen werden, so kann das zu einer erheblich höheren Verängstigung führen, als die vordergründige slapstickartige Darstellung von Gewalt.

Welche Überlegungen stellen Sie an, wenn Sie einen Film ab 12 Jahren freigeben?

Zwölfjährige sind durchaus in der Lage, einen Film in seiner Gesamthandlung und seiner Gesamtaussage aufzunehmen. Sie können problematische Inhalte, auch visuelle Darstellungen von Gewalt, im Gesamtkontext verkraften. Sie haben bereits ein bestimmtes Verständnis von der Welt und können Filmaussagen richtig einordnen. Allerdings befinden sich Zwölfjährige in der Pubertät, sie sind dabei, ihre Identität und ihr eigenes Wertesystem zu entwickeln, und das alles führt zu einer erheblichen Verunsicherung. Sie fragen sich, welchen Stellenwert sie in der Gesellschaft haben, sie beginnen, sich mit Sexualität und Partnerschaft auseinanderzusetzen. Sie sind auf der Suche nach ihrem Lebenskonzept, nach ihrem Lebenssinn, und sie lösen sich von den Wertevorstellungen ihres Elternhauses. Wenn Filme diese Unsicherheit ausnutzen und Wertvorstellungen anbieten, die in eine falsche Richtung leiten, dann müssen wir eine Freigabe ab 12 Jahren ablehnen. Gerade die Geschlechterrollen, die in Filmen angeboten werden, beeinflussen Zwölfjährige mangels eigener Erfahrung stärker als die Sechzehnjährigen.

Eine Reihe von James Bond-Filmen wurde ab 12 Jahren freigegeben mit dem Argument es handele sich hier um eine Kultfigur, deren fiktionalen Charakter jeder Jugendliche ab 12 Jahren durchschauen könne. Der letzte James Bond-Film wurde allerdings ab 16 freigegeben. Wo liegt der Unterschied?

James Bond ist eine Genrefigur, wobei man sich allerdings fragen kann, ob heutige Zwölfjährige das im Gegensatz zu uns, die mit James Bond groß geworden sind, bereits wissen. Bei dem letzten Film haben wir uns gefragt, welcher James Bond eigentlich gezeigt wird. Ist es der, der in souveräner Art und Weise über den Dingen steht, der mit einer Portion Selbstironie, die Zwölfjährige durchaus verstehen können, seine Abenteuer erlebt den man als Filmfigur nicht ganz ernst nimmt oder wird ein James Bond gezeigt, der viel härter dargestellt wird, der zynisch vorgeht, der in seinem Verhalten, auch wenn es sich um Selbstverteidigung und Notwehr handeln mag, sehr brutal ist. In diesem Fall spricht das doch eher für eine Freigabe ab 16. Auch das Rollenbild ist nicht ganz unproblematisch. James Bond bestimmt die Handlung, er ist umgeben von Frauen, die entweder gegen ihn sind oder ihm helfen. Sie sind aber keine echten Partnerinnen. Allerdings spielt das bei James Bond wohl eher eine untergeordnete Rolle.

Es gibt doch bestimmt auch Detaildarstellungen von Gewalt die für Zwölfjährige nicht zugelassen werden.

Da gibt es unterschiedliche Positionen. Die einen meinen, die Auswirkungen von Gewalt müßten gezeigt werden, um Mitleidsfähigkeit mit den Opfern zu entwickeln. Die anderen sagen, daß bei Gewaltdarstellungen nicht die Entwicklung von Mitleid im Vordergrund steht, sondern eher das Spekulative, so daß sich die Gewalt verselbständigt. Es muß also unterschieden werden, ob die entsprechende Gewaltdarstellung geeignet ist, die Mitleidsfähigkeit zu fördern, oder ob sie in einer Art Eigendynamik das Filmgeschehen überlagert. Auf einen Aspekt möchte ich noch hinweisen: Gerade bei Zwölfjährigen sind die Entwicklungsunterschiede sehr groß. Und bei der Freigabe ab 12 müssen wir natürlich immer prüfen, ob auch sensible Zwölfjährige in der Lage sind, die dargestellte Gewalt ohne Schaden zu verkraften.

Nach den FSK-Grundsätzen ist darauf zu achten, daß Filme auf die Angehörigen einer Altersgruppe nicht übererregend wirken. Spielt das bei der Freigabe ab 12 eine Rolle?

Ja. Während bei der Freigabe ab 16 die Übererregung nicht mehr berücksichtigt wird, spielt dieser Faktor bei Zwölfjährigen eine große Rolle. Wenn Filme einen Suspense aufbauen, der sich dann im Laufe des Filmes immer mehr steigert, vor allem dann, wenn er zum Schluß nicht positiv aufgelöst wird, dann ist das gerade für sensible Zwölfjährige ein Problem. Man kann Zwölfjährigen nicht soviel zumuten wie Erwachsenen, obwohl sie natürlich auf der anderen Seite schon über sehr viel Medienerfahrung verfügen. Aber sie verfügen über sehr wenig Lebenserfahrung, und das muß bei der Freigabe berücksichtigt werden.

Es wird vermutet, daß gerade Zwölfjährige ein hohes Interesse an Gewaltfilmen haben. Was ist der Grund dafür?

Es ist richtig, daß viele Zwölf- und Dreizehnjährige Genres bevorzugen, die man als gewalthaltig bezeichnen kann. Aber mir ist in vielen Gesprächen mit Jugendlichen aufgefallen, daß sie nicht die Gewalt gegen Menschen interessant finden, sondern es geht eher um die Action, um endlose Verfolgungsjagden, um Autos, die ineinanderfahren, was auf uns Erwachsene oft langweilig wirkt. Auf der anderen Seite gibt es natürlich eine hohe Neugierde in dem Alter, was es an Gewalt in der Welt gibt und das suchen Kinder und Jugendliche natürlich auch in Filmen. Es kommt im Kino schon vor, daß Gewaltanwendungen gegen den Bösewicht mit Beifall begleitet werden. Aber es geht dabei eher um Spannung, es geht um Geschwindigkeit, um schnellen Schnitt. Grundsätzlich kann man vielleicht sagen, daß der Standardkrimi, der Standardabenteuerfilm oder der Standardwestern für Zwölfjährige freigegeben werden kann. Zwölfjährige erleben gerne Filmspannung, sie können die Story und die Dramaturgie des Filmes nachvollziehen, sie können sich auch entspannen, wenn die Geschichte gut ausgeht. Insofern kann man ihnen durchaus gewisse Actionsequenzen zumuten. Aber in dem Augenblick, in dem die Gewalt spekulativ wird, in dem sie quantitativ einen großen Anteil des Filmes ausmacht, und wenn die Gewaltszenen spekulativ ausgemalt und detailliert sind, kann man den Film erst ab 16 freigeben. Darüber hinaus ist die Realitätsnähe von Bedeutung. Wenn die im Film dargestellte Situation mit der Realität von Zwölfjährigen übereinstimmt ist die Gefahr groß, daß unter Umständen Irritationen, die durch die Filmhandlung vermittelt werden, weniger gut verarbeitet werden können, als wenn die Story eindeutig fiktiv eingeordnet wird. Wichtig ist, daß bei einer Freigabe ab 12 der Abenteuercharakter vorherrscht, die Spannung, die durch die Geschichte vermittelt wird, am Schluß positiv gelöst wird, damit die Zuschauer ihre Ängste ausreichend abbauen können.

Kommen wir auf die Unterscheidung zwischen einer Freigabe ab 6 Jahren und ab 12 Jahren.

Wir haben in den Ausschüssen mit dieser Altersspanne zwischen sechs und zwölf Jahren ziemlich viele Probleme. Die Entwicklungssprünge der Kinder sind in diesem Alter schnell, ein sechsjähriges Kind hat ein völlig anderes Verständnis als ein achtjähriges Kind, ein zehnjähriges Kind ist wieder ein erhebliches Stück weiter. Es ist manchmal etwas unbefriedigend, daß wir uns bei einer Freigabe ab 6 Jahren immer an der Altersstufe der Sechs bis Achtjährigen orientieren müssen, so daß wir Filme ab 12 Jahren freigeben müssen, die für Acht Oder Zehnjährige durchaus nachvollziehbar und verständlich wären. Es gibt einige durchaus gute, anspruchsvolle Kinderfilme, die für die Acht oder Zehnjährigen wertvoll sein könnten, die wir dennoch erst ab 12 Jahren freigeben können. Kinder lieben Geschichten, in denen ein Schwacher im Laufe des Filmes stark wird. Sie selbst empfinden sich in ihrer Situation oft als hilflos und schwach, und sie identifizieren sich gern mit anderen Kindern, die sich in gefährlichen Situationen des Lebens bewähren. Daß es dabei oft ziemlich turbulent zugeht, ist dann für die Kinder eher eine Begleiterscheinung, sie interessieren sich mehr für die Allmachtsphantasien und die Emanzipation des Helden, weil sie damit ein Stück das Erwachsensein vorwegnehmen.

Filme wie KEVIN - ALLEIN ZU HAUS oder auch POWER RANGERS sind nach diesem Muster entstanden, und sie sind bei Kindern sehr beliebt. Allerdings enthalten sie auch Szenen, die für die unteren Jahrgänge dieser Altersgruppe nur schwer zu verkraften sind. Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, daß Kinder erst ab acht Jahren in der Lage sind, Filme als Fiktion wahrzunehmen, daß sie den Spannungsbogen noch nicht mit- verfolgen können. Sie nehmen Filme als die Addition von Einzelszenen auf, so daß sie selbst durch ein Happy-End nicht die durch einzelne Szenen entstandenen Ängste abbauen können. Zehnjährige wären dazu durchaus in der Lage, aber wir müssen uns hier an den Sechsjährigen orientieren. Hinzu kommt, daß die Sechs- bis Achtjährigen noch nicht so medienerfahren sind, als daß sie genretypische Strukturen sofort durchschauen könnten. Zehnjährige wissen bei bestimmten Genres bereits, daß die Geschichte gut ausgeht, und das hilft ihnen, auch durch einzelne Szenen hervorgerufene Ängste auszuhalten. Schwierig wird es in der Entscheidung bei Filmen, die durchaus positiv wirken können, aber dann in einzelnen Szenen doch die ein oder andere Problematik enthalten.

In dem französischen Film AM GROSSEN WEG reist ein Großstadtjunge auf das Land und wird dort mit Realitäten konfrontiert, denen man in der Stadt normalerweise nicht ausgeliefert ist. Zum Beispiel erlebt er das Schlachten von Tieren. Nun wissen wir, daß gerade Kinder das Leiden oder den Tod von Tieren im Film intensiver erleben als zum Beispiel den Tod von Menschen. Deshalb muß man damit rechnen, daß solche Szenen erhebliche Ängste und Reaktionen hervorrufen können. Ein anderes Beispiel ist der Film DER BÄR. In der Anfangssequenz wird die Mutter des kleinen Bären von Jägern erschossen, und diese Szene wird sehr intensiv, wenn auch nicht spekulativ inszeniert. Wegen dieser Szene wurde sehr heftig darüber diskutiert ob man diesen Film ab 6 Jahren freigeben kann. Wir haben uns für eine solche Freigabe entschieden, denn der Film vermittelt sehr viele positive Werte. Und man kann die Realität nicht ganz ausblenden, auch im realen Leben sind Kinder mit vielen Ängsten und Gefahren konfrontiert. Der kleine Bär findet sich ohne seine Mutter in der Welt zurecht und im Laufe der Zeit entwickelt sich eine Beziehung zwischen ihm und dem Jäger, und dies wird für Kinder nachvollziehbar dargestellt. Der Bär wird zunehmend zur Identifikationsfigur für Kinder, so daß wir meinen, daß eine Freigabe ab 6 Jahren vertretbar ist. Allerdings muß man eben sehen, daß gerade die Sechsjährigen oft nicht in der Lage sind, Einzelszenen in den Gesamtkontext des Filmes einzuordnen. Insofern gibt es immer wieder Fälle, bei denen man über eine Freigabe ab 6 streiten kann. Allerdings würde dann eine Freigabe ab 12 Jahren bedeuten, daß Achtjährige oder Zehnjährige, die dies durchaus verkraften können, den Film ebenfalls nicht sehen dürfen. Aber ein Film besteht nun mal nicht nur aus Einzelszenen, sondern aus einer Gesamtdramaturgie. Und deshalb muß darauf geachtet werden, daß die Länge der problematischen Sequenzen, gemessen am Gesamtkontext des Filmes, nicht zu dominant ist. Darüber hinaus sollte es im Film Ruhepausen geben, in denen sich die Kinder emotional entspannen können. Wichtig ist auch, daß die Komplexität der Handlung nicht so ist, daß sie für Kinder eine Überforderung darstellt. Ein Kind muß die Möglichkeit haben, sich gerade nach stark emotionalisierenden oder verängstigenden Szenen aus der Handlung auszuklinken, um dann später wieder in die Handlung einzusteigen. Bei Fernsehfilmen ist das etwas anderes, weil Kinder selten länger als zwanzig Minuten intensiv vor dem Fernseher sitzen, ohne zwischendurch etwas anderes zu tun. Aber bei Kinofilmen muß man davon ausgehen, daß sie während der Dauer des Filmes auf ihrem Platz sitzen müssen. Deshalb ist die emotionale Wirkung im Kino erheblich größer. Allerdings, wenn man sich einmal Kinderfilmvorführungen ansieht, gibt es auch hier eine Reihe von distanzierenden und entlastenden Momenten, es wird gelacht es wird gesprochen, in Situationen der Angst wird die Hand der Mutter gehalten.

Ein besonderes Problem, das ich für die Freigabe ab 6 noch ansprechen möchte, ist das des Zeichentrickfilms. Hier bin ich grundsätzlich der Meinung, daß man nicht automatisch einen Zeichentrickfilm mit einem Kinderfilm gleichsetzen kann. Zeichentrickfilme sind oft als Familienfilme konzipiert und sollen zwar besonders die Jüngeren ansprechen, aber auch für Erwachsene interessant sein. Und deshalb muß auch bei jedem Zeichentrickfilm geprüft werden: Wie ist seine Dramaturgie, seine Darstellungsebene und seine Story zu beurteilen? Allein aufgrund der Tatsache, daß dort Zeichentrickfiguren agieren, ist bei Kindern nicht automatisch eine Distanzierung möglich. Und wenn der Film über eine gute Animation verfügt, dann ist die Anteilnahme der Kinder am Schicksal der Zeichentrickhelden genauso groß wie bei Realfiguren. Deshalb muß man an Zeichentrickfilme die gleichen Kriterien anlegen wie an Realfilme. Und dabei spielt natürlich das Happy-End eine ganz entscheidende Rolle. Anders verhält es sich bei Kurzzeichentrickfilmen. Die Diskussion, die vor zehn oder zwanzig Jahren über TOM & JERRY, BUGS BUNNY, SCHWEINCHEN DICK und andere Zeichentrickserien geführt wurde, halte ich inzwischen für überholt. Kinder leben in einer Medienwelt, und sie können inzwischen mit solchen Filmen viel besser umgehen, als das vor Jahren der Fall war. Natürlich darf auch bei solchen Filmen die reine Gewalt, auch wenn sie noch so slapstickartig ist, die Filmhandlung nicht dominieren. Aber im wesentlichen geht es doch bei solchen Filmen darum, daß ein körperlich schwacher, aber gewitzter Held durch alle möglichen Tricks sich erfolgreich gegen einen starken, aber etwas dummen Gegner durchsetzt. Das interessiert die Kinder, das mögen sie, und das macht auch einzelne Gewalthandlungen, wenn sie nicht zu intensiv dargestellt werden, erträglich.

Welche Kriterien werden an die Freigabe "ohne Altersbeschränkung" angelegt?

Pädagogisch wünschenswert wäre es natürlich, wenn Filme, die für Kinder ohne Altersbeschränkung freigegeben werden, nicht länger als zwanzig Minuten sind. Kinder sollten die Geschichte nachvollziehen können, sie sollten ihre Emotionen und Eindrücke in Handlung umsetzen können. Aber auch kleine Kinder lieben das Kino, und es zeigt sich immer wieder, daß sie in der Lage sind, einen einstündigen Film zu verkraften. Es ist nicht die Aufgabe der FSK-Gremien, hier pädagogische Empfehlungen auszusprechen, sondern es geht um Beeinträchtigungen von Kindern. Aber wenn ein Film zum Beispiel eine Länge von über 180 Minuten hat, dann ist natürlich die emotionale und körperliche Belastbarkeit von jungen Kindern überschritten. Deshalb würde diese Länge bereits für eine Freigabe erst ab 6 Jahren sprechen.

Inhaltlich gelten für die ganz jungen Kinder ähnliche Kriterien wie für die Freigabe ab 6, allerdings muß hier noch sorgfältiger darauf geachtet werden, daß der Film keine allzu belastenden Szenen enthält, die das Kind nicht versteht oder aufarbeiten kann. Das gilt auch für die Spannungsmomente, die Kinder ab 6 Jahren schon eher verkraften können.

Kinder haben in ihrer realen Lebenssituation eine Reihe von Ängsten, die von Erwachsenen teilweise erheblich unterschätzt werden. Wenn solche Ängste durch Filme verstärkt werden, ohne daß die Kinder die Möglichkeit erhalten, diese im Laufe des Filmes abzuarbeiten, dann ist ein solcher Film für diese Altersfreigabe "ohne Altersbeschränkung" nicht tragbar. Der Aspekt der Übererregung, der in den FSK-Grundsätzen als ein Aspekt der Beeinträchtigung genannt wird, gilt am stärksten für die Freigaben "ohne Altersbeschränkung" und ab 6 Jahren.

Wir haben bisher weitgehend über die Darstellung von Gewalt gesprochen, die bei der Altersfreigabe zu berücksichtigen ist. Wie sieht es mit erotischen Darstellungen aus?

Zunächst einmal möchte ich betonen, daß die Darstellung von Nacktheit allein kein Grund ist, einen Film nicht auch für jüngere Kinder freizugeben. Es gibt schwedische oder dänische Kinderfilme, in denen Nacktheit völlig ungezwungen und unspekulativ in einen nachvollziehbaren Kontext gestellt wird, so daß diese Filme ohne Probleme für alle Altersgruppen freigegeben werden können. Wenn allerdings erotische oder sexuelle Darstellungen mit problematischen Rollenbildern verknüpft werden, dann kann das Kinder und Jugendliche schon beeinträchtigen. Wir müssen hier unterscheiden, ob es sich bei den Prüfobjekten um Erotik- bzw. Sexfilme handelt- also Filme, die ausschließlich das Ziel verfolgen, den Betrachter sexuell zu stimulieren - oder um Spielfilme, die einzelne Szenen mit erotischen Inhalten haben. Erotikfilme fokussieren das Leben auf die Befriedigung sexueller Bedürfnisse, ohne diese in einen Kontext von emotionalen Beziehungen oder gegenseitiger Verantwortung zu setzen.

Das Geschlechterbild sieht meistens so aus, daß der Mann ständig kann und die Frau ständig will - um dies auf eine einfache Formel zu bringen. Bei Jugendlichen, die diesem Verhaltensmuster keine eigenen Erfahrungen entgegensetzen können, werden solche Filme zu erheblichen Irritationen führen. Sie suchen in den Filmen nicht allein die sexuelle Stimulans, sondern sie möchten durch Filme auch die Frage beantwortet wissen, wie Menschen sich in der Sexualität verhalten. Sie suchen nach Verhaltensmustern für sich selbst, sie wollen aber auch gleichzeitig wissen, wie sich der gegengeschlechtliche Partner vermutlich verhält. Erfahren männliche Jugendliche durch Erotikfilme, daß Männer in jeder Lebenslage Frauen verführen können und ständig potent sind, so erhöht dies den Leistungsdruck an sich selbst, was häufig zu Versagensängsten oder Selbstwertproblemen führen kann. Gleichzeitig wird ein Aspekt ausgeblendet, der gerade für das Jugend alter besonders wichtig ist. Das Verliebtsein, die Angst, verlassen zu werden, das langsame Herantasten an Zärtlichkeit und Sexualität sowie die Verbindung von emotionaler Zuneigung, Sexualität und Verantwortung, zum Beispiel bezüglich der Empfängnisverhütung, werden in diesen Filmen völlig ignoriert. Auch das Bild vom Sexualpartner kann beschädigt werden, wenn dieser letztlich als auswechselbares Objekt der eigenen Lust dargestellt wird. Gerade in der Altersphase zwischen zwölf und sechzehn Jahren können diese Filme eine erhebliche Überforderung darstellen. Aber auch Sechzehnjährige verfügen nicht grundsätzlich über sexuelle Erfahrungen und können daher nicht immer erkennen, daß die in solchen Filmen dargestellte Sexualität jenseits aller Lebenswirklichkeit abläuft. Deshalb erhalten solche Filme, solange sie nicht pornographisch sind, in der Regel erst eine Freigabe "nicht unter 18 Jahren": Pornographische Filme erhalten von der FSK keine Kennzeichnung, denn nach § 184 Abs. 7 Strafgesetzbuch dürfen sie in öffentlichen Filmveranstaltungen nicht vorgeführt werden. Sie dürfen lediglich im Videobereich an Erwachsene unter bestimmten Auflagen abgegeben werden, solange es sich nicht um verbotene harte Pornographie - also Darstellungen mit Kindern, mit Tieren und Gewalt handelt. Filme, bei denen es sich eindeutig um Pornographie handelt, werden daher der FSK auch nicht vorgelegt. Wir müssen uns allerdings manchmal mit Grenzfällen beschäftigen, also mit Filmen, bei denen man darüber streiten kann, ob es sich noch um Erotik- oder Softsexfilme handelt oder schon um Pornographie.

Wichtiger für unsere Arbeit ist allerdings der Bereich des Spielfilms, denn auch dort gibt es ja mehr oder weniger drastische und problematische Darstellungen von Sexualität. Es ist zu sagen, daß die Darstellungen expliziter Sexualität für eine Freigabe ohne Altersbeschränkung oder ab 6 Jahren keine Chance haben. Bei einer Freigabe ab 12 Jahren kommt es darauf an, ob eine entsprechende Darstellung so gestaltet oder kontextuell eingebunden ist, daß sie auch für die jüngeren Jahrgänge dieser Altersstufe verkraftbar ist. Wichtig ist die Einbettung in den Gesamtkontext des Filmes. Daß in der Ehe oder in Freundschaften Sexualität eine Rolle spielt, ist Zwölfjährigen bekannt, und es darf ihnen daher auch im Film vorgeführt werden. Sexualität muß also eingebettet sein in glaubwürdige zwischenmenschliche Beziehungen, sie darf nicht selbstzweckhaft sein, und die Beziehungen dürfen nicht auf sexuelle Stimulans reduziert werden. Denn gerade in dieser Phase der sexuellen und ethischen Unsicherheit können von Filmen erhebliche Lernimpulse ausgehen. Bei Sechzehnjährigen sind wir hier schon etwas großzügiger. Zum einen haben sie in diesem Bereich erheblich mehr Erfahrungen, zum anderen wissen sie, daß es sich um Fiktion handelt, und sie können sich so von dem Geschehen besser distanzieren. In einem Film wie "Basic Instinct" zum Beispiel geht die Hauptdarstellerin sehr offen und sehr selbstbewußt mit ihrer Sexualität um, das Ganze ist eingebunden in einen Kriminalfall. Dieser Film wurde trotz problematischer Szenen ab 16 Jahren freigegeben, was aber nicht ganz unumstritten war, vor allem wegen der Verbindung von Gewalt und Sexualität Problematisch ist also, wenn Sexualität im Zusammenhang mit Gewalt dargestellt wird, wenn Menschen nicht aus freiem Willen handeln, sondern aufgrund von physischer oder psychischer Bedrohung. Wird eine solche Darstellung durch den Gesamtzusammenhang des Filmes nicht ausreichend relativiert, so kommt höchstens eine Freigabe "nicht unter 18 Jahren" in Frage, unter Umständen kann die Kennzeichnung sogar ganz abgelehnt werden, vor allen Dingen dann, wenn die Menschenwürde tangiert ist. Das gilt ebenfalls für sexuelle Darstellungen, die selbstzweckhaft oder spekulativ sind, insbesondere wenn sie den Gesamtkontext des Filmes dominieren. Grundsätzlich darf die Behandlung von Sexualität im Film allerdings nicht tabu bleiben. Denn Sexualität spielt natürlich bei Heranwachsenden eine große Rolle, und es wäre unehrlich, wenn man diesen Aspekt in Filmen ausblenden würde. Es kommt darauf an, daß der Film verantwortungsbewußt mit solchen Darstellungen umgeht und, daß Sexualität in einen nachvollziehbaren zwischenmenschlichen Zusammenhang gestellt

Wir haben uns jetzt ausführlich mit der Frage von Gewaltdarstellungen und erotischen Darstellungen in Filmen beschäftigt. Gibt es auch noch andere jugendschutzrelevante Themen?

Quantitativ spielen sicherlich Gewalt und Sexualität im Film die größte Rolle bei FSK-Freigaben. Aber es kann auch andere Aspekte der Jugendbeeinträchtigung geben, zum Beispiel dann, wenn Filme den Genuß von Drogen oder Alkohol verherrlichen oder verharmlosen. Ein Beispiel dafür ist der Film COCKTAIL, in dem der Hauptdarsteller, der von Tom Cruise gespielt wird, praktisch folgenlos sein Leben durch den Genuß von Alkohol gestaltet. In diesem Film gibt es keinen Sex und keine Gewalt, dennoch wurde er erst ab 16 Jahren freigegeben. Auch Filme mit einer problematischen Grundideologie, etwa Fremdenfeindlichkeit, sind in hohem Maße jugendschutzrelevant.

Das Interview führte Joachim von Gottberg
Erschienen in "TV Diskurs" 10/1999
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